Vorgestern angereist, gestern alle Formalitäten erledigt, saß ich am 28. August 2022 um 4:30 Uhr im Frühstücksraum meines Hotels mitten in Sölden und mir dämmerte, worauf ich mich eingelassen hatte. Im März hatte ich per Losverfahren einen begehrten Startplatz für den Ötztaler Radmarathon ergattert und diese Challenge konnte ich mir nicht entgehen lassen!
Meine sportliche Jahresplanung wurde umgeschrieben, Schwimmen & Laufen „an den Nagel gehängt“ und alles drehte sich auf einmal um mein Rennrad. Die Strecken wurden länger und länger, wodurch in den letzten Monaten Wochenleistungen von 300 km und mehr zur Regel wurden. Was nicht auf der Straße ging, fand dann eben zu später Stunde im heimischen Keller per Zwift statt. Mit etwa 5.000 km im Rücken fühlte ich mich ganz gut vorbereitet, bekam mein Müsli jetzt aber kaum runter. Es warteten 225 km, 5.500 Höhenmeter und vier Alpenpässe in Österreich und Italien auf mich…
Nachdem ich meine Ausrüstung mindestens dreimal gecheckt hatte, verließ ich um 5:00 Uhr das Hotel, um einen guten Startplatz zu ergattern. Zu meine Überraschung waren um 5:15 Uhr schon ungefähr 400 Personen vor mir in der Startaufstellung. Also alles richtig gemacht, später hätte es nicht sein dürfen.
Bei etwa 8 °C ging es pünktlich um 6:30 Uhr mit einem Kanonenschuss los. Die noch nervöse Hatz nach Ötz begann und wurde von den ersten Stürzen im Feld begleitet. Mit dem ersten Alpenpass erklommen wir das Kühtai und es wurde ordentlich warm. Auf dem Weg nach oben zogen überall Fahrer Langfingerhandschuhe und Jacken aus, um sie oben für die erste Abfahrt wieder anzuziehen. Hier hatte ich bereits eine halbe Stunde Vorsprung vor dem Besenwagen, alles lief also nach Plan!
Auf der Abfahrt kam es dann zur ersten Streckenänderung. Wir mussten mal eben nach Axams rauf, um dann wieder in Richtung Innsbruck auf die Originalstrecke zurückkehren zu können. In Innsbruck angekommen ging es dann an der berühmten Skisprungschanze, dem Bergisel, vorbei auf die alte Brennerstraße in Richtung Italien. Auch wenn es sich nicht so anfühlte, konnte ich den Brennerpass doch ganz gut hinter mich bringen. Ich hatte weitere 10 Minuten gutgemacht und war inzwischen 40 Minuten vor dem Besenwagen.
Viele sagen, dass das Rennen erst hier beginnt und das bekam ich nach der Abfahrt vom Brenner am Jaufenpass zu spüren. Ich fuhr so weiter wie bisher, das schien ja zu funktionieren und etwa eine Stunde vor dem nächsten Zeitgate an der Verpflegung Jaufenpass wurde mir klar, dass das Eng wird. Dort angekommen rief man allen Fahrern zu: „Noch 5 Minuten, dann lassen wir hier keinen mehr durch!“ Ich füllte nur meine Flaschen, Verpflegung hatte ich noch und nach 30 Sekunden saß ich wieder im Sattel. Ziel war, schnellstmöglich die noch etwas höher liegende Passhöhe zu überqueren, da dort erneut eine Zeitschranke lauerte. Diese war dann wieder weniger ambitioniert gesetzt, so dass ich erneut ein paar Minuten Vorsprung aufbauen konnte. Ob der zwischenzeitliche Regen oder die Umleitung in Sterzing mich beinahe das Rennen gekostet hätten, war jetzt egal. – Weiter!
Nach einer wilden, aber wunderschönen Abfahrt war auf einmal Sommer. In St. Leonhard war es 27 °C warm, die Leute saßen in Restaurants und sahen den Vorbeifahrenden zu, die sich in Richtung des letzten Alpenpasses mühten.
Das Timmelsjoch oder auch „der Endgegner“ lag noch vor uns und langsam dämmerte mir, dass ein Finish beim Ötztaler in greifbare Nähe rückte. Ich lag inzwischen wieder eine Stunde vor der Zeit und wusste um meinen Joker! Drei Wochen vor dem Ötzi hatte ich noch eine Mountainbikekassette mit 36 Zähnen montiert… Auf dem Weg nach oben spielten sich dann echte Dramen ab. Leute standen regungslos über ihre Lenker gebeugt, saßen ohne Schuhe am Rand oder schoben einfach, um weiterzukommen. Ich trat stoisch mein 36er Ritzel, machte aber auch noch den ein oder anderen Rast in einer Kehre. Die Musik wurde lauter und unter Hells Bells von AC/DC kam ich letztendlich oben am Tunnel an. – Geschafft, dachte ich.
Von hier waren es dann doch noch etwa 50 Minuten, ein Anstieg zur Mautstation, den die Welt nicht braucht und die Abfahrt über Hochgurgl und Zwieselstein nach Sölden. Dort war dann egal, dass es auf dem Timmelsjoch nur noch 5 °C waren und ich bei der Abfahrt ordentlich gefroren habe. Ich hatte es geschafft und wurde in Sölden mit Applaus und Kuhglockengeläut empfangen. Umleitungsbedingt waren es im Ziel 232 km und 5.627 Höhenmeter, die mich nach 12 Stunden und 52 Minuten, etwas über 5 Stunden hinter dem Sieger und eine Stunde vor meinem persönlichen Gegner, dem Besenwagen, haben finishen lassen.
Geschrieben von Markus Heynen
(Vielen Dank an SPORTOGRAF.COM für die schönen Fotos und die Genehmigung, die gekennzeichneten Fotos im Rahmen dieser Berichterstattung benutzen zu dürfen.)